Meta-Spiritualität – Jenseits aller Dogmen

Ken Wilber

Der erste, der eine Meta-Perspektive verschiedener spiritueller Traditionen vornahm, war Ken Wilber. Mit keinem spezifischen, religiösem Background ging er – allein mit seiner Erfahrung und seiner Ausbildung als Mikrobiologe – an die Schaffung einer spirituellen Meta-Perspektive. Wenn man die kulturspezifischen, spirituellen Modelle des Ostens und die westlichen Modelle der Entwicklungspsychologie übereinander legte, sollte doch ein einigermassen objektives Bild herauskommen, so war seine Hypothese. Und in der Tat, seine ersten Publikationen wurden von einer Gruppe von interessierten Lesern sehr gut aufgenommen. „Wilbers Denken fußt auf den Ideen von Plotin, Meister Eckhart, Sri Aurobindo, des deutschen Idealismus, des Advaita Vedanta Hinduismus, des tibetischen Buddhismus, Jean Gebser, Jürgen Habermas, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg, Arthur Koestler, Teilhard de Chardin, Alfred North Whitehead, Clare W. Graves, Rupert Sheldrake und vieler anderer. „(Zitat von Wikipedia) Seine integrale Sicht der Dinge hilft eine Meta-Perspektive zu entwickeln und sich nicht in Dogmen oder sektiererischen Glaubenssystemen zu verlieren.

Die drei Stufen der Spiritualität: Glauben, Frömmigkeit und Erfahrung

Wilber unterscheidet grundsätzlich drei praktische Umsetzungsformen von Spiritualität: Glauben, Frömmigkeit und Erfahrung. Glauben bezeichnet er als die schwächste Form, nicht in seiner Wirkung, sondern in Bezug auf die Authentizität. Man glaubt an das, was in der Bibel, im Koran, in den buddhistischen Sutren oder sonst wo geschrieben steht. Man glaubt an tote Worte, und die einzig richtige Interpretation ist natürlich die des religiösen Führers oder der Gemeinschaft, der man angehört. Oder man glaubt das, was einem der Priester, Mullah, Rabbi oder Mönch erzählt. Die nächste Stufe ist Frömmigkeit. Hier hat man eine Ahnung, spürt eine Kraft, die grösser ist als man selbst, fühlt sich inspiriert von Vorstellungen oder Visionen, die der eigenen religiösen Tradition zugehören. Das emotionale Zentrum wird aktiviert und man hat vielleicht Zustände von Verzückung, Glücksgefühle oder sogar Ekstase erlebt. Jetzt geht es darum andere zu überzeugen, alle zu beglücken, denn je mehr wir sind, umso grösser ist das eigene Glück. Schlecht sind natürlich all die, die nicht dazu gehören oder den eigenen Glauben in Frage stellen. Wenn man zusammen kommt, schwimmt man im glückseligen Meer der Bekehrten. Wir alle haben diese Bilder von christlichen Fernsehpredigern in den USA oder fanatischen Muslims gesehen. Das gleiche Phänomen kann man auch in kleinen geschlossenen „Eso-Kreisen“ erleben. Schnell merkt man, wer bereits ein Insider ist und wer Neuankömmling.

Erfahrung ist selbst-evident

Die höchste Entwicklungsstufe bezeichnet Wilber schlicht und ergreifend als „Erfahrung“. Wenn ich eine transzendente Erfahrung gemacht habe, muss ich weder irgendetwas glauben noch jemanden davon überzeugen. Das impliziert aber auch, dass eine Meta-Perspektive nicht von der Notwendigkeit einer spirituellen Praxis getrennt werden kann. Rein kognitive, intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Thema, das die Seele eines Menschen oder seine Identität miteinschliesst, führt nirgendwohin, ausser in den Nihilismus. An den Existentialisten wurde deutlich, dass eine rein theoretische Auseinandersetzung mit dem Sein mitunter auch in den Selbstmord führen kann: „Der Tod ist für Camus  ein absolutes Ende, das wie das Leben keinen Sinn hat.“ (Albert Camus) Wenn wir uns mit den existentiellen Fragen des Seins oder der Sinnhaftigkeit des Lebens beschäftigen, kommen wir an praktischen, spirituellen Erfahrungen nicht vorbei.

Der Meta-Ansatz

Ein meta-spiritueller Ansatz kann hier helfen. Wie bereits von Wilber  erwähnt, geht es um die praktischen Methoden, um eigene Erfahrungen machen zu können. Mit anderen Worten: Im Vordergrund steht die Vermittlung von Techniken und die Ermächtigung, Empowerment neudeutsch, des Schülers oder Studenten durch den Lehrer. Ohne Lehrer kommt hier im übrigen nicht weiter. Das Lesen schlauer Bücher, sei es aus dem tibetischen oder  Zen-Buddhismus, Sufismus, Hinduismus, oder sonst einer authentischen Tradition etc. bringt einen zwar theoretisch weiter, aber ansonsten eben nicht. Man wird zwar in den o.a. Traditionen keinen Lehrer finden, der eine Meta-Persoektive einnehmen wird, weil er oder sie ja eine gewisse Tradition repräsentiert – Ausnahmen bestätigen die Regel -, aber ein guter Lehrer ist jemand, der den Schüler immer wieder auf sich selbst zurückführt. Er gibt ihm ein Koan (Zen), eine Atemtechnik (Buddhismus), eine spezifische Meditation (Yoga) oder spezifische Kontemplation (Shaolin), die es dem Schüler ermöglicht, spezifische Erfahrungen zu machen. Wer eine solche Methode über Jahre praktiziert hat, weiss, dass sie einen transformieren kann. Aber er weiss auch, dass die Methode nach einer gewissen Zeit trocken werden kann. Man steckt fest und kommt nicht weiter. Die Methode selbst wird zum Hindernis, denn sie impliziert immer, dass man noch nicht da ist, wo man sein soll – gemäss der Tradition in der man sich befindet. An dieser Stelle können zwei Dinge passieren.

1. Man begibt sich auf die Suche nach einer anderen Tradition. War man vorher Buddhist, so versucht man jetzt eine vielleicht eine besondere Hindu Tradition des Kashmir Shivaismus. Hier findet man die geheimen tantrischen Techniken der Selbstbeherrschung. Oder man geht in ein christliches Kloster und studiert die Wege des Franz von Assisi oder praktiziert die Gesänge der Benediktiner. Diese Strategie kann man als „Surfen“ in verschiedenen Traditionen bezeichnen und ist ein durchaus gängiger Weg, sein eigenes Methodenrepertoire zu erweitern.  Wie tief oder wie oberflächlich man surft hängt nicht nur davon ab, wie stark das eigene „Commitment“ ist, sondern meistens auch wie gut der Lehrer ist. Ist der Lehrer erfahren und verfügt selbst über ein ausgiebiges Repertoire an Methoden innerhalb seiner eigenen Tradition,  kann er den Studenten immer tiefer in die eigene Essenz führen. Allerdings ist es hier dem Lehrer oder der Tradition, die er vertritt , überlassen zu definieren.  was die verschiedenen Stufen der Essenz sind und wann er welche Stufe erreicht hat.

2. Hat man genug vom „Surfen“ und fragt sich beispielsweise: „Wer meditiert da eigentlich?“ oder „Ist es nicht endlich Zeit mal in sich anzukommen oder das streben nach besonderen inneren Zuständen oder die „Erleuchtung endlich erreichen zu wollen“ aufzugeben, der kommt fast unweigerlich in eine Meta-Perspektive und die bedeutet in der Regel das Ende des Suchens. Das Spiel ist aus. Man erkennt, dass das Suchen selber zum Hindernis geworden ist, dass wirkliche Meditation eine vollständige, widerstandslose Bejahung aller Aspekte des Lebens bedeutet, wohlgemerkt aller Aspekte!  Man kommt an, in sich und fühlt sich sauwohl nach all dem Kämpfen und Streben. Erst hat im Äusseren gekämpft, um Erfolg,Anerkennung, Liebe und Wohlstand. Dann hat man immer Inneren gekämpft, um Ruhe, Seelenfrieden, Toleranz, Nicht-Urteilen oder Erleuchtung.Und plötzlich erkennt man, dass der schnellste Weg zur Erleuchtung die völlige Hingabe an das ist, was in jedem Augenblick ist. Und das bedeutet, alles loszulassen und sein zu lassen. Kein Widerstand dem Leben gegenüber in all seinen Aspekten – reine Leere, die zu völliger Verbundenheit mit allem führt. Das Ich ist ein Witz, eine Fiktion, der man nachjagt, wie der Hund dem eigenen Schwanz. Ein Journalist frage mal einen  weisen buddhistischen Mönch: Was ist die Essenz des Buddhismus? Der Journalist erwarte eine lange gescheite Antwort und der Mönch antwortete knapp: “ Kein Ich, kein Problem.“

Die einzige spirituelle Tradition, die sich mit der Leerheit allen Seins auseinandersetzt, man kann statt Leere auch Substanzlosigkeit sagen, ist der Buddhismus. Hier wird die Leere als Shunyata bezeichnet und bedeutet Nicht-Selbst. Wer längere Zeit meditiert stellt unweigerlich fest, dass die Vorstellung eines konstanten Ichs eine Illusion ist. Das Einzige was konstant ist, ist der ständige Wandel der Existenz und das schliesst ständig wechselnde Gedanken, Gefühle und Empfindungen mit ein. All das nennen wir Ich, weil wir uns damit identifizieren. Wer aber aus einer Meta-Perspektive z.B. mentale Aktivitäten beobachtet, wird sich schnell der chaotischen Eigenständigkeit, des Denkens, bewusst. Man erkennt, dass die Welt letztlich keine Welt des Seins ist, sondern des ständigen Werdens, in der es keine festen Substanzen und keine unumstößlichen Realitäten gibt. Das einzig Reale, das bleibt, ist unsere Fähigkeit diese Unbeständigkeit wahrzunehmen, bzw. zu beobachten. Durch die Beobachtung bekommt man Abstand zur Ich-Struktur. Ist der Abstand gross genug, kommt es zu einer Dissoziation, einer Loslösung vom Ich. Beginnt man sich mehr und mehr im Beobachter zu verankern, kann man konstant eine Meta-Perspektive einnehmen, und erfährt so die Leere oder Formlosigkeit als letztlichen Urgrund des Seins, aus der heraus sich alle Formen materialisieren. Mit der Erfahrung der Leere einher geht die Bewusstwerdung, dass alle Formen miteinander verbunden sind. Nichts ist getrennt. Alles ist in allem enthalten. Das Universum wird zum Hologramm, das sich durch uns als Wahrnehmenden seiner Komplexität und Schönheit bewusst wird und das Leben in allen Aspekten und Formen bejaht.

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