Der chinesische Begriff des „WuWei“ hat für mich seit Jahrzenten eine starke Faszination. Man findet seinen Ursprung bei den Taoisten, deren bekannteste Vertreter Lao Tse und Dschuang Tse waren. Gemäß der taoistischen Philosophie gibt es ein Wirkungsprinzip, das die gesamte Schöpfung durchzieht und die Wandlung aller Dinge bewirkt. Das 2 ½ tausend Jahre alte Buch der Wandlungen, das I Ging, ist eine Schatztruhe ewiger Weisheit. In ihm findet dieses Prinzip des Wu Wei zum ersten Mal Erwähnung. Es beschreibt in vielen Bildern, Geschichten und Metaphern, dass wir in einer Welt der polaren Gegensätze leben, die sich gegenseitig bedingen: Das Schöpferische und das Empfangende, Arm und Reich, Krieg und Frieden, Hunger und Überfluss, Licht und Schatten, Positives und Negatives, Verleumdung und Aufrichtigkeit, das Hässliche und das Schöne, etc. Alle Gegensätze sind Erscheinungen polarer Kräfte, die permanenten Wandel hervorbringen. Betrachten wir den aktuellen Zustand der Welt, so wird deutlich, dass wir heute in einer Zeit extremer Gegensätze und starkem Wandel leben.
Das I Ging empfahl, dass man in Zeiten starker Veränderungen, Zeit für Ruhe schaffen sollte, um im geschäftigen Alltag über Klarheit und Weitsicht verfügen zu können: „Wer sich selbst in Zeiten der Ruhe meistert, verfügt über Entschiedenheit, wenn es ums Handeln geht. Wer innerlich über Stabilität verfügt, dessen Handlungen führen nicht zu Misserfolg. Ruhe ist die Grundlage der Bewegung. Bewegung erschafft das Potential der Ruhe. Ruhe wird erreicht, indem man den Kopf leert.“ Probleme entstehen gemäß der taoistischen Lehre, wenn die Dinge nicht im Gleichgewicht sind.
Zuviel Anstrengung führt zu einem Verlust von Kraft (Chi); wenn zu viel Energie benutzt wird, ist Erschöpfung die Folge. Erschöpfung führt zu Krankheit. Wer die polaren Kräfte, Yin und Yang, auszubalancieren weiss, erzeugt Gleichgewicht und Gesundheit. Die Taoisten empfehlen uns daher, nicht „den Fluss anzuschieben“ und stattdessen die Stille zu kultivieren. Für den vom permanenten Handeln und Smart-Phone besessenen Macher, der in Aktivität ertrinkt, ist „Nichtstun“ geradezu absurd. Deswegen leuchtet dem Aktionssüchtigen das Prinzip des WuWei, d.h. des Nichthandels, nicht auf Anhieb ein. Erst, wenn der Körper streikt, Beziehungen auseinanderfallen oder Misserfolg droht, denkt er daran sein Tempo zu drosseln.
Wollen wir das konventionelle, auf alte Denk- und Verhaltensmuster basierende kleine Ich beiseitelassen, macht man sich gemäß der taoistischen Philosophie auf, in die grosse Freiheit des Nicht-Wissens und der Spontanität. Die ist eins mit dem Ursprung aller Phänomene. Polarität wird für einen Moment aufgegeben, das Gefühl der Einheit kultiviert. So erfolgt das rechte Handeln mühelos und spontan. WuWei bedeutet also nicht, nicht zu handeln, sondern das Handeln aus innerer Stille, der Einheit mit dem Tao, spontan entstehen zu lassen. So wird alles Notwendige leicht getan. Übereifer, wie auch blinder Aktionismus, als hinderlich angesehen, können so vermieden werden.
Wie gelangt man nun in diese grosse Freiheit der Spontaneität und Mühelosigkeit. Im Taoismus wird der Weg der „inneren Alchemie“ beschrieben. DschuangTse, der zur gleichen Zeit lebte wie Konfuzius und dessen, aus Formeln und Regeln bestehendes System ablehnte, da es ihm an Spontaneität und Lebensfreude mangelte, beschreibt den Weg in die Mühelosigkeit des Wu Wei in drei einfachen Worten: „Sitzen und vergessen.“ Dieses „Sitzen in Versunkenheit“ wird später zur Hauptpraxis der Shaolin Tradition, Ursprung des Chan Buddhismus (Zen). Wir wünschen Ihnen für die kommende Zeit der Wandlungen ein gesundes Gleichgewicht der Energien, sowie müheloses Handeln aus der Selbstvergessenheit des WuWei.