Onami – die grosse Welle und sein Zen-Lehrer Hakuju
Im Japan des 19. Jahrhunderts lebte ein berühmter Sumo-Ringer mit dem Namen Onami, übersetzt „grosse Welle“. Er war weit bekannt für seine Stärke. In privaten Kämpfen bezwang er sogar seinen Lehrer, aber bei Wettkämpfen in der Öffentlichkeit unterlag er den eigenen Schülern. Da er nicht mehr weiterwusste, wandte er sich an Hakuju, einen Zen Lehrer und Wandermönch, als dieser sich in der Nähe in einem kleinen Tempel aufhielt.
Von Hakuju ist überliefert, dass er zu unkonventionellen Methoden griff, wenn er unterrichtete. An einem heissen Sommernachmittag lehrte er die ursprüngliche Philosophie des Zen-Buddhismus, als er feststellen musste, dass einige seiner Schüler dabei waren einzuschlafen. Er stoppte seinen Unterricht abrupt und sagte: „Ist es nicht ein heisser Nachmittag heute? Ich kann euch keine Vorwürfe machen, wenn ihr einschlaft. Habt ihr was dagegen, wenn ich mich euch anschliesse?“ Dann klappe er sein Textbuch zu, lehnte sich zurück und schlief ein. Die Schüler waren perplex. Alle, die vorher gedöst hatten, wurden durch sein Schnarchen wieder wach und warteten darauf, dass er wieder aufwachte.
Eben diesen Zen-Meister Hakuju suchte Onami auf, denn der Druck der Öffentlichkeit lastete schwer auf ihm. So schwer, dass er nicht in seine Kraft kam. Hakuju trug ihm Folgendes auf: „Wenn „Grosse Welle“ dein Name ist, dann bleib diese Nacht im Tempel. Stell Dir vor, Du bist diese Welle. Du bist kein Sumo-Ringer mehr, der Angst hat. Du bist diese riesigen Wellen, die alles wegfegen, was vor ihnen ist. Tu nur das und Du wirst der grösste Sumo-Ringer sein, den dieses Land je gesehen hat.“
Hakuju zog sich zurück. Onami sass im Tempel und stellte sich vor, eine Welle zu sein. Viele Gedanken gingen ihm am Anfang noch durch den Kopf. Dann stellte sich mehr und mehr das Gefühl ein, eine Welle zu sein. Im Verlaufe der Nacht wurden die Wellen grösser und grösser. Sie spülten die Blumenvasen hinweg, die im Tempel aufgestellt waren. Selbst die Statue des Buddha wurde von den Wellen erfasst. Vor dem Morgengrauen gab es im Bewusstsein von Onami nur noch Ebbe und Flut in einem riesigen Meer. Am Morgen fand Hakuju den Sumo Ringer Onami immer noch meditierend im Tempel, mit einem Lächeln im Gesicht. Er klopfte ihm sanft auf die Schultern und flüsterte in sein Ohr: „Jetzt kann Dich Nichts mehr aufhalten. Du bist jetzt die Welle und wirst alles hinwegfegen, was sich Dir in den Weg stellt.“ Am gleichen Tag stellte sich Onami erneut dem Ringkampf und gewann. Ab diesem Zeitpunkt war niemand mehr in der Lage Onami zu besiegen.
Wenn wir uns die Zeit nehmen tief in die Essenz unseres Seins einzutauchen, entdecken wir unter dem „Kleinen Ich“ eine andere Dimension unseres Wesens: das „transpersonale Selbst“, jenseits aller Muster, Ängste oder Konditionierungen. Dieses Selbst, wenn es tief erfahren wird, ist unberührt von Erfolg oder Misserfolg, von Sorgen oder Krankheit. Es weiß, dass es ewig ist und unendliche Weite hat, wie der Ozean. Es zeigt sich erst, wenn wir innehalten. Es lässt sich nicht erzwingen oder organisieren. Dieses Selbst lebt bei den meisten Menschen unter ihrer Alltagsrealität, wie ein unsichtbarer Strom. Manchmal zeigt es sich spontan, nimmt uns mit, in die Tiefenstruktur des Lebens. Es kümmert sich nicht mehr um die Meinungen anderer, akzeptiert vollständig seine Menschlichkeit, wie der Zen Meister Hakuju, schläft, wenn er müde ist oder wird zur riesigen Welle wie Onami. Dieses Selbst verschwendet keine Zeit mehr damit, sein wahres Gesicht hinter einer Fassade zu verstecken.
Eine der fundamentalen Voraussetzungen, um in Kontakt mit diesem tieferen Selbst zu kommen ist, uns Zeit zu nehmen, für uns selbst. Oft kümmern wir uns um alles andere, nur nicht um uns selbst. Ohne die Pflege dieses Selbst bleiben wir meist in der Oberflächenstruktur unseres Lebens hängen, leben am Kern unseres Wesens vorbei. Dschuang Tse, einer meiner chinesischen Lieblingsphilosophen, sagte deshalb: „Darum, wer sich nur nach außen wendet, ohne zu sich selbst zurückzukehren, der geht als Gespenst im Leben umher.“ Ich wünsche Ihnen für die kommende Frühlingszeit die Authentizität des Zen Meisters Hakuju, und für Ihre tiefsten Ziele und Visionen die Hingabe und Selbstvergessenheit des Sumo Ringers Onami.