„Übe dich im Nicht-Tun, und alles wird sich fügen.“ — Lao Tse
Der Weg ohne Anstrengung
„Wu Wei“, die chinesische Bezeichnung für Ausgewogenheit und den Weg ohne Anstrengung, übt seit meiner Jugend eine starke Faszination auf mich aus. Man findet „Wu Wei“ vor allem bei den Taoisten Lao Tse und Dschuang Tse. Gemäß der taoistischen Philosophie gibt es ein grundlegendes Wirkungsprinzip, das die gesamte Schöpfung durchzieht und die Wandlung aller Dinge bewirkt. Das 2500 Jahre alte Buch der Wandlungen, das IGing, ist eine Schatztruhe ewiger Weisheit. In ihm findet dieses Prinzip des „Wu Wei“ zum ersten Mal Erwähnung. Es beschreibt in vielen Bildern, Geschichten und Metaphern, dass wir in einer Welt der polaren Gegensätze leben, die sich gegenseitig bedingen: Das Schöpferische und das Empfangende, arm und reich, Krieg und Frieden, Hunger und Überfluss, Licht und Schatten, Positives und Negatives, Verleumdung und Aufrichtigkeit, das Hässliche und das Schöne, etc. Alle Gegensätze sind Erscheinungen dualer Kräfte, die permanenten Wandel hervorbringen. Betrachten wir den aktuellen Zustand der Welt, so wird deutlich, dass wir heute in einer Zeit extremer Gegensätze und starkem Wandel leben.
Für Ausgewogenheit und Ruhe sorgen
Das IGing empfahl, dass man in Zeiten starker Veränderungen, für Ausgewogenheit und Ruhe sorgen muss, um im geschäftigen Alltag über Klarheit und Weitsicht zu verfügen: „Wer sich selbst in Zeiten grossen Wandels durch Ruhe (Nicht-Handeln) meistert, verfügt über Entschiedenheit, wenn es ums Handeln geht. Wer innerlich über Stabilität verfügt, dessen Handlungen führen nicht zu Misserfolg. Ruhe ist die Grundlage der Bewegung. Bewegung erschafft die Notwendigkeit der Ruhe. Ruhe wird erreicht, indem man den Kopf leert.“ Probleme entstehen gemäß Lao Tse, wenn der Kopf nicht frei ist. So geraten die Dinge ins Ungleichgewicht. „Wu Wei, d.h. Nicht-Tun, ist ein Synonym für Sein. Wenn wir im Sein verankert sind, sind wir – wenn es drauf ankommt – voll präsent.
„Es gibt nichts, was sich nicht durch WuWei bewältigen liesse.
Auf alles verzichten bedeutet, die Energie des Universums zu gewinnen.“Lao Tse
Zuviel Anstrengung führt zu einem Verlust von Chi
Zuviel Anstrengung führt zu einem Verlust von Kraft (Chi); wenn zu viel Energie benutzt wird, ist Erschöpfung die Folge. Erschöpfung führt zu Krankheit. Wer die polaren Kräfte, Yin und Yang, auszubalancieren weiss, erzeugt Gleichgewicht und Gesundheit. Die Taoisten empfehlen uns daher, nicht „den Fluss anzuschieben“ und stattdessen die Stille zu kultivieren. Für den vom permanenten Handeln besessenen „Macher“, der süchtig ist nach ständiger Aktivität, ist „Nichtstun“ verlorene Zeit. Deswegen leuchtet ihm das Prinzip des WuWei, die Kraft der Stille, nicht auf Anhieb ein. Erst wenn der Körper streikt, Beziehungen auseinanderfallen oder Misserfolg droht, denkt er daran, sein Tempo zu drosseln und wieder zu sich selbst zu kommen.
Das Gefühl der Einheit kultivieren
Wollen wir das, auf alte Denk- und Verhaltensmuster basierende, kleine Ich überwinden, macht man sich gemäß der taoistischen Philosophie auf, in die grosse Freiheit des Nicht-Wissens und der Spontanität einzutauchen. Die ist eins mit dem Ursprung aller Phänomene. Polarität wird für einen Moment, z.B. in der Meditation, aufgegeben und das Gefühl der Einheit kultiviert. So ergibt sich erfolgreiches Handeln mühelos und spontan. WuWei bedeutet also nicht, nicht zu handeln, sondern das Handeln aus dem Sein, aus der innere Stille, der Einheit mit dem Tao, spontan entstehen zu lassen. So wird alles Notwendige mit Leichtigkeit getan. Blinder Aktionismus und Fehlentscheidungen können so vermieden werden.
Stimmst du mit dem Tao überein,
durchströmt dich seine Kraft.
Dein Tun wird naturnah,
deine Art, die Art des Himmels.” Lao Tse
Früher dachte ich immer, dass alles was ich erreicht hatte, Ergebnis meiner Anstrengung war, aber das Gegenteil ist der Fall. Die besten Dinge, die mir gelungen sind, sind mir zugefallen. Das Selbst, das Tao, hatte sie mir im richtigen Moment geschickt und ich war präsent genug, diesen „Eingebungen“ zu folgenden. Befreiung von alten Zwängen, ständigen Sorgen und alten Mustern besteht darin, das Handeln aus der Tiefe seines Seins fliessen zu lassen, spontan, mühelos und ohne Anstrengung. Es passiert, wenn wir auf eine tiefe Art und Weise der Seele, dem Höheren Selbst, dem versteckten Plan des Lebens, der inneren Bestimmung zuhören und diesen Inspirationen folgen. Dann ist es nicht mehr das kleine, sich ständig Sorgen machende Ich, das entscheidet, sondern das authentische, nicht von der Gesellschaft konditionierte, ursprüngliche Selbst. Dogen, Zen Mönch und Taoist des 13. Jahrhunderts, hat den Zustand des „Wu Wei“ wie folgt beschrieben: «Das Tao zu studieren heißt, das Selbst zu studieren. Das Selbst zu studieren bedeutet, das Ich zu vergessen. Das Ich zu vergessen bedeutet, von allen Dingen des Universums erleuchtet zu werden. Von allen Dingen des Universums erleuchtet zu werden, bedeutet, den Körper und den Verstand des Ichs, sowie den der anderen, abzulegen.»
Die Praxis des Nicht-Wissen
Nicht nur waren die Taoisten geniale, humorvolle und verwegene Wesen, Philosophen und spirituelle Lehrer, sie haben auch die Praxis des „Nichtwissens“ begründet. Wir im Westen können uns leider kaum vorstellen, welche kreative Kraft darin steckt. Mit unserer panischen Angst vor diesem Begriff, kommen wir Denk- und Autoritäts-fixierten Wesen, nicht einmal annähernd an diesen Zustand heran. In unserem Denk- und Bildungssystem symbolisiert „Nichtwissen“ etwas, was absolut vermieden werden muss. Also sind wir dazu verdammt uns ein Leben lang, Gedanken, Konzepte und Erfahrungen von anderen, scheinbar „intelligenteren“ Experten einzuprägen.
„Nichtwissen“ schlägt einen komplett anderen Weg ein, schöpft aus der unmittelbaren Erfahrung des Augenblicks und nutzt den direkten Zugang und die Verbindung zum Ganzen – zur kosmischen Datenbank – um Lösungen zu generieren. Im Gegensatz zu unserem zerebralen Vorgehen, ermöglicht dieses Lernen eine Ganzkörpererfahrung und bedarf keiner Anstrengung, um das Gelernte abzuspeichern. Eine Ganzkörpererfahrung erzeugt und hinterlässt einen starken Eindruck, weil sie alle Sinne und vor allem auch die Emotionen miteinbezieht. Damit auch wir uns als kreative Genies erfahren können, müssten wir bereit sein, den Preis des Loslassens, des Vertrauens, der geistigen, intellektuellen und emotionalen Offenheit zu zahlen. Ralph und ich nutzen und trainieren in all unseren Seminaren den Ansatz des Nichtwissens. Er ermöglicht uns, flexibel und vergnügt am Puls der Zeit zu bleiben, um immer wieder geistreiche Lösungen zu finden und neue Wege einzuschlagen.
Ralph und Tamara im Januar 2022