„Da ist einer, der sich reifen lässt.
Er drängt nichts in sich, er überstürzt nichts,
er hat immer ein Heute,
das ihn ganz ausfüllt, und ein Morgen,
das er erwarten kann.
Seine Seele hat ein tiefes Atemholen.
Sie grübelt nicht, wünscht nichts Weites,
sie hat einfach Sommer, sie reift.“
Rainer Maria Rilke
Warum die Weissen wahnsinnig sind…
Als C.G. Jung bei einem Besuch in den USA jemanden aus dem Ältestenrat des Taos Pueblo Stammes fragte, was er von den Weißen halten würde, antwortete dieser:
„Ihre Augen sind starr; sie suchen dauernd etwas. Die Weißen wollen immer irgendwas, sie sind ängstlich und rastlos. Wir wissen nicht, was sie suchen, wir verstehen sie nicht. Wir denken sie sind wahnsinnig.“ Jung fragte ihn, warum sie denken, dass die Weißen wahnsinnig sind. „Sie sagen von sich, dass sie mit dem Kopf denken“, antwortete er. „Mit was denkt ihr denn?“ fragte ihn C.G.Jung erstaunt. „Wir denken hier,“ sagte er und zeigte auf sein Herz.
Kein Wunder haben wir die Kunst des „Verweilens“ vergessen. Der Rhythmus der IT-Gesellschaft ist atemberaubend, er lässt dich nicht mal richtig durchatmen. Wir wollen immer schon angekommen sein. Flughäfen sind wunderbare Orte das Phänomen des „kontinuierlichen Getriebenseins“ zu beobachten. Niemand will da sein, wo er ist und tatsächlich ist kaum noch jemand wirklich präsent, außer kleine Kinder und Hunde. Sie sind meine primären Bezugswesen bei einem Besuch in der Stadt.
Ankommen im Selbst
Was in vielen spirituellen Traditionen als ein „Ankommen im Selbst“ bezeichnet wird, ist die Fähigkeit „es mit sich gut auszuhalten“, auch wenn Nichts geschieht. Kann ich z.B. in der Meditation, in der Natur oder zuhause einfach verweilen, mit mir in Ruhe sitzen, liebevoll, wohlwollend, ohne dem Drang irgendetwas tun, nachgeben zu müssen oder mich von Gedanken vereinnahmen zu lassen? Wenn wir das innere Drängen überwinden können, erschliesst sich uns dahinter eine Ebene des Seins, die sich in ihrer Tiefe selbst genügt.
Boddhidharma, Gründer der Shaolin Tradition und des Zen-Buddhismus, nannte es das „weite Feld“. Dieses „Feld“ eröffnet sich, wenn es uns gelingt im „inneren Beobachter“ lange genug zu verweilen. Irgendwann gibt dann der Verstand auf. Er lässt uns in Ruhe, wenn wir ihm keine Nahrung, d.h. keine Aufmerksamkeit, mehr geben. Plötzlich öffnet sich ein Fenster in die „Weite des eigenen Seins“. Aus dieser Ebene kann Weisheit fliessen und neue Erkenntnisse sich offenbaren, die einen weiten Horizont haben, die das Ganze berücksichtigen.
Statt Menschen mit Weisheit finden wir in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft mehrheitlich Soziopathen und Narzissten. In den alten chinesischen Quellen des Zen-Buddhismus finden wir konkrete Hinweise, wer für Führungsaufgaben qualifiziert ist, bzw. wem wir unser Vertrauen schenken können:
«Wer Menschen führen will, muss in der Lage sein, Gewinner zu finden.
Wer gewinnen will, muss Stärke besitzen.
Stärke besitzen jene, die wissen, die Kräfte anderer zu nutzen.
Um die Kräfte anderer nutzen zu können, muss man deren Herzen gewinnen.
Wer die Herzen anderer gewinnen will, muss lernen sich selbst zu meistern.
Um Selbstmeisterschaft zu erlangen, braucht es die Bereitschaft nach Innen zu schauen.»
Quelle: Huainan Masters on Leadership and Strategy.
Sowohl im Westen bei den indigenen Völkern, als auch in den alten Kulturen Asiens finden wir Hinweise für das, was uns heute am meisten fehlt: Herz und Weisheit. Die Tibeter verbanden es zu einem einzigen Wort: Herzweisheit. Ohne die Kunst des Verweilens, kein Abstand zu den Dingen; ohne Abstand kein Mitgefühl; ohne Mitgefühl und Abstand keine Weisheit.
Alles jetzt sofort? oder vielleicht doch lieber zum richtigen Zeitpunkt?
Die zyklische Natur der Motivations- und Manifestations-Dynamiken verstehen
Wir sind so ungeduldig wie noch nie zuvor.
Warum funktioniert es nicht?
Warum geht das so langsam?
Warum ist es noch nicht da?
Gut Ding braucht Weile. Alle die vor uns kamen, wussten um die natürlichen Zyklen des Werdens und Vergehens.
Wir wollen das nicht wahrhaben.
So sehr ist unsere Zeit verdichtet und beschleunigt, so sehr sind wir unter Druck geraten, dass wir kollektiv, die elementarsten Gesetzmäßigkeiten ignorieren.
In den versteckten Dimensionen der Manifestations-Zyklen wächst etwas im Uterus der Zeit, im Dunkeln, im Verborgenen, etwas was nicht bedrängt und gehetzt werden kann. Wir können die Geburt nicht forcieren und müssen damit aufhören, uns und unseren Visionen Gewalt anzutun.
Womit wir nicht gerechnet haben: die in Zielen eingebauten Lernerfahrungen.
Bloß keine Umwege, bloß keine Überraschungen. Wenn wir nicht alles unter Kontrolle haben, flippen wir aus. Aber, wie lässt sich etwas kontrollieren, was wir noch nicht kennen, wo wir noch nicht gewesen sind? Eine Absurdität unserer Zeit ist es, Prozesse steuern zu wollen, die wir noch nicht erforscht haben.
Der Anspruch des „instant delivery“ ist eine arrogante und einfordernde Haltung dem Leben gegenüber. Ein infantiles und narzisstisches Benehmen, welches dazu führt, dass man alle und alles funktionalisiert. Den Augenblick vergewaltigen, den alten Utilitarismus leben, wird zum hässlichen Egotrip. Das ökonomische Dogma, sich selbst und andere nur an den Ergebnissen zu messen, der Wille, die Prozesse zu verkürzen (das berühmte „Verschlanken“), bedeutet, die Geburt zu erzwingen.
Wenn wir versuchen, den in Zielen und Visionen mit-eingebauten Lernprozess zu umgehen, werden wir nicht überzeugend sein und uns unsicher fühlen; eine poröse Position, ohne stabilen Unterbau, auf tönernen Füssen, labil, prekär, angreifbar.
Was uns auf unserem Weg zur Zielerreichung unterstützt, ist Raum für freies kreatives Denken, Verletzlichkeit, Experimentierfreude, Unwissenheit, Wagemut und Unsicherheit. Wenn wir die zyklische Natur lebendiger Prozesse würdigen, können wir die Dinge reifen lassen und aus dem Mangelbewusstsein aussteigen. Wenn unsere Ziele und Visionen, mit dem was wir persönlich zu geben haben, verbunden sind, dann verfügen wir über Zuversicht und einen langen Atem (intrinsische Motivation).
Unsere Absichten beinhalten Reifeprozesse, welche essentielle Informationen, Zyklen der Motivation und des Zweifelns und wichtige Erfahrungen inkludieren.
Zweifel, Ängste und Gefühle der Unzulänglichkeit sind Phänomene, die im Wachstumsprozess mit-eingebaut sind. Einzig die Bereitschaft, sie zu erfahren und zu erfühlen, erlaubt es der kreativen Energie frei zu fließen. Falsche Vorstellungen, Glaubenssätze, persönliche Traumata und Erwartungen müssen geheilt und losgelassen werden.
Je grösser die Vision, umso mehr Herausforderungen bringt sie mit und umso mehr Ängste triggert sie. Die Prozesse des Werdens zeigen uns unser Nicht-Wissen und unseren Un-reifegrad, aber sie nehmen uns auch an die Hand und lassen uns den „Weg zum Ziel“ als Abenteuer erleben.
Mit jeder Vision geht eine zutiefst persönliche Transformation einher. Wir empfangen, entwickeln und gebären uns selbst. Am Ziel angekommen, sind wir ein anderes, neues und erweitertes Wesen. Wir sind nicht mehr dieselbe Person wie zu Beginn der Reise.
Tamara, März 2024