Antworten des I Ging auf Zeitbeschleunigung & Komplexitätswachstum

Tao LandschaftObjektiv betrachtet ist Zeit konstant, subjektiv schaut es ganz anders aus. Zeit kann sich dehnen oder extrem komprimieren. Ein Tag kann wie ein ganzes Leben sein oder sich ewig hinziehen. Subjektiv erleben viele Menschen zunehmend, dass ihnen die Zeit wie Wasser durch die Fingern rinnt. Wir müssen eine wachsende Komplexität bewältigen und immer mehr Ereignisse in den gleichen Zeitraum quetschen. Wenn man jemanden danach fragt, wie er sich die Zukunft in 100 oder 500 Jahren vorstellt, erhält man nur ratlose Gesichter, aber keine vernünftige Antwort. Es ist zu verrückt, sich vorzustellen, was in 100 Jahren sein soll, nur schon bei gleichbleibender Komplexität, ganz zu schweigen, wenn sich alles noch weiter beschleunigt.

Laufen wir auf ein Ende der Zeit zu, auf einen Omega Punkt, an dem alles miteinander konvergiert, d.h. in einem Punkt zusammenläuft? Ray Kurzweil nannte diesen historischen Augenblick „Singularität“. Er bezeichnet damit den Augenblick „an dem sich Computer mittels künstlicher Intelligenz rasant selbst programmieren und derartig beschleunigen, dass die Zukunft der Menschheit nicht mehr vorhersehbar ist.“ Kurzweil ist kein Spinner. Er ist seit 2012 technischer Leiter der Entwicklung bei Google und hatte das Internet bereits 10 Jahre vor seiner Entstehung vorhergesagt.  Einige von uns, die vielleicht etwas wacher sind als der Rest, der in den ausgetretenen Trampelpfaden der Konventionen lebt, beobachten zwei Phänomene: 1. Die Zeit beschleunigt sich immer schneller.
2. Die Komplexität (bzw. der Wahnsinn) nimmt rasant zu.

Die Digitalisierung, die nun in aller Munde ist, erzeugt eine ungeheure Verdichtung und Beschleunigung aller Tätigkeiten, egal ob im Business oder in der Freizeit. Menschen schauen heute 90 mal pro Tag auf ihr Handy, auch in der Freizeit und 50 mal davon machen sie irgendwas mit ihrem Minicomputer. Ständige Online-Präsenz, immer im Standby-Moduls, permanent verfügbar sein, ist für viele selbstverständlich geworden. Von außen betrachtet ist das ein Ameisenhaufen, in dem die Ameisen immer schneller werden müssen, um irgendwann zu kollabieren, weil die digitalen Antreiber des Systems exponentiell schneller sind. Computer geben jetzt schon Menschen den Rhythmus vor und greifen tief in ihr Leben ein.

Die wachsende Kompression von Ereignissen ist ein spürbares Phänomen, aber scheint niemanden so richtig zu interessieren. Kosmologisch betrachtet war es der Big Bang, der das Universum, so wie wir es heute kennen, gebar. Eine ungeheure Verdichtung, aus der heraus das Neue entstand. Sexualität folgt dem gleichen evolutionären Muster. Eine Verdichtung der Lebensenergie, aus dem heraus neues Leben entsteht. Die nächste Stufe der Komplexität basiert immer auf der Vorhergehenden und packt immer wieder mehr Ereignisse in den gleichen Zeitraum. Es scheint also ein evolutionärer Impuls zu sein, dass alles immer intensiver miteinander verbunden wird, d.h. der Vernetzungsgrad (engl.: connectivity) steigt unablässig.  Aber so wie der Frosch nicht aus dem Kochtopf springt, wenn man das Wasser konstant erhöht, so lassen wir uns in dieser Dynamik „kochen“ ohne, dass uns wirklich bewusst wird, was da mit uns geschieht.

Die zentrale Frage ist daher: Wie entkommt man dieser stressigen Dynamik. Der Westen hat kaum eine Antwort auf diese existentielle Frage, wie man in einer Zeitepoche konstanter Beschleunigung und wachsender Komplexität nicht „vor die Hunde“ geht. Denn entweder spuckt einen dieses System aus, weil man das Tempo nicht durchhält (zu langsam, zu blöd, zu antriebslos, zu blockiert) oder das digitale System verbrennt früher oder später seine Repräsentanten (Burnout, Depression, Scheidung, Schlaflosigkeit, etc..). Allerdings haben die, die das Spiel erfolgreich mitspielen können, zumindest noch eine gute Prise „Flow“ im Jonglieren der Komplexität, weil sie sich zeitweilig als kreativ, selbstwirksam oder potent erfahren.

Dieser immer dichter werdende Raum der Komplexität schreit nach Ruhe, Stille, Abschalten. Der Osten hat hier mehr zu bieten mit seinen kontemplativen Techniken. Denn in Asien war in früheren Epochen „Zeit“ der interessanteste Faktor, während es bei uns im Westen „Energie“ ist und war.  Der Westen ist besessen von Energie und Beschleunigung: Autos, Waffen, Öl, Technologie, etc. Das große Geheimnis des Ostens dagegen war der Umgang mit der Zeit: Kontemplation, Muße, Meditation. Das 4000 Jahre alte, chinesische I Ging, auch Buch der Wandlungen genannt, handelt von den Rhythmen der Zeit, dem Erkennen des richtigen Augenblicks, vom angemessenen und harmonischen Umgang mit der Zeit. Wann ist etwas sinnvoll, notwendig, richtig? Wann beginnt man? Wann ist Zeit zu warten und wann Zeit etwas abzuschließen? Wandlungsphasen sollten frühzeitig erkannt werden. Die Absicht war, sich mit der Tiefendimension der Zeit, dem Tao, wie die Chinesen es nannten, zu synchronisieren. Dem Tao zu folgen, bedeutete, der himmlischen Ordnung zu folgen.  Das I Ging war und ist ein Werkzeug, um die Tiefendimension von Ereignissen zu verstehen. Dafür jedoch braucht es Abstand und Stille. Nur wenn wir achtsam in der Stille verweilen können, erkennen wir die tieferen Muster von Wandlungsprozessen. Das I Ging sagt: „Wer sich selbst meistert in Zeiten der Ruhe, der kann auch achtsam sein in Zeiten des Handelns. Wer Stabilität erreicht in der Ruhe, dessen Handeln wird zu erfolgreichen Ergebnissen führen. Ruhe ist die Grundlage von Bewegung. Wenn Du auch im Handeln die Ruhe bewahren kannst, wird dein Weg erleuchtet sein.“

Sobald wir das Bewusstsein von unseren konditionierten Sichtweisen befreien, indem wir in die Stille eintauchen (Natur, Kontemplation, Meditation), eröffnet sich das Tor zur Weisheit. In der alten, taoistischen Tradition Chinas ist das Eintauchen in die Stille immer die Grundlage von Erkenntnis gewesen. Die bedeutendsten Vertreter dieser Tradition, Lao Tse und Dschuang Tse, sind auch nach 2000 Jahren immer noch Klassiker der Weltliteratur. Wenn wir die Welt nicht mehr aus der konditionierten Sichtweise unserer kulturellen Prägungen sehen wollen, sondern objektiv, so empfiehlt das I Ging die Kultivierung der Stille:

„Wenn Du Wandel verstehen und erfolgreich mit ihm umgehen willst, erkenne den richtigen Augenblick. Um den richtigen Augenblick zu erfassen, erkenne die Muster. Um die Muster zu erkennen, kultiviere Offenheit und Stille. Wenn Du offen bist, wird der Geist klar. Wenn Du still bist, ist der Geist rein. Wenn Dein Geist klar und rein ist, werden die Gesetze des Himmels offensichtlich.“
Die Technik: „Um den Geist in seinen ursprünglichen, nicht gespaltenen Zustand zurück zu bringen, sitze still und meditiere. Zähle zuerst den Atem; dann beobachte den Atem, bis er nicht mehr wahrnehmbar ist. Sei achtsam mit dem Körper, als sei er das, noch nicht verfeinerte, Absolute. Dann wirst Du nichts mehr hören. Die, die ihre Ruhe bewahren können, auch nachdem sich ein Erdbeben ereignet hat, sind fortgeschritten; nicht mal erschrocken zu sein, bedeutet Meisterschaft.“ 

 

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