Digitalisierung, Megatrends und was wir vom Delphi-Orakel lernen können.

IMG_7506Delphi ist das älteste Orakel und galt in der Antike als der Mittelpunkt der Welt. Ursprung war vermutlich die minoische Kultur Kretas, die im Zeitraum zwischen dem 3. und 1. Jahrtausend v. Chr. das Mittelmeer dominierte. Kretische Händler kamen u.a. nach Nordgriechenland und inspirierten die ansässige Bevölkerung einen sakralen Ort zu schaffen, an dem man einen Blick in die Zukunft wagte. Könige, wie Alexander der Große oder Philosophen, wie Sokrates oder Herodot, rühmten die Weisheit des Orakels. Delphi stand für eine Bewusstseinsebene, die den üblichen Zeitströmen enthoben war und tiefer schauen konnte, als der normale Geist. Das Delphi-Bewusstsein steht für die Fähigkeit sich vom Mainstream des Denkens zu lösen, alte Denkweisen aufbrechen zu können und das Gehirn neu zu vernetzen. Es ist für unser Überleben als Spezies von zentraler Bedeutung, dass wir nicht nur die wahrscheinlichen Megatrends erkennen (s.u.), sondern gemeinsam eine neue, bessere Zukunft für alle erschaffen. Delphi gab uns vor fast 3.000 Jahren dazu zwei Empfehlungen: „Erkenne Dich selbst“, und „Nichts im Übermaß“.

Aber betrachten wir zunächst einmal die Megatrends, die laut der Heidelberger Gesellschaft für Innovative Marktforschung (GIM) unser zukünftiges Leben prägen werden.

  1. Algorithmisierung
  2. Verwertung
  3. Gestaltung / Manipulation
  4. Fragmentierung
  5. Re-Lokalisierung

1. Algorithmisierung: Was du im Facebookstream siehst, was deine Googlesuche ergibt, welche Songs dir bei Spotify oder iTunes empfohlen werden, deine Kaufgewohnheiten bei Amazon und vieles mehr werden von Algorithmen erfasst, ausgewertet. Das daraus erstellte Profil soll wesentlich genauer sein, als dass was deine Freunde über dich wissen. Wer im Netz surft, wird vieldimensional erfasst. Anschliessend wird dir alles leicht modifiziert zurückgespiegelt. Die Algorithmen werden dich im Laufe der Zeit so gut kennen, dass sie wissen, wann du welche Musik zu welcher Zimmertemperatur hören willst oder wo du Urlaub machst.  Längst schon sind es lernfähige, neuronale Netzwerke, die jeden unserer Schritte erfassen und den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen zur Verfügung stellen.
2. Verwertung: Die letzten Jahre war das Motto: Lebe so, dass jeder Moment zählt, aber der Slogan der Zukunft heißt: „Lebe so, dass jeder Moment verwertbar ist“. Das klingt zwar ähnlich, ist aber doch ein ganz anderes Lebenskonzept. Das heißt, ich will nicht werden, was ich bin, sondern ich will sein, was mich weiterbringt. Ein gutes Essen zu kochen für Freunde das ist gut, aber dafür bei Instagram 2500 Likes zu bekommen, ist besser. Der Berufswunsch vieler Jugendliche heute heißt Influencer oder Youtuber. Je mehr Traffic man auf seiner Webseite hat, umso grösser die Werbeeinnahmen, die man potentiell damit generieren kann.
3. Gestaltung (Manipulation): Ob mit Nahrungsergänzungsmitteln, Psychopharmaka, Nootropics (verbessern angeblich die Gehirntätigkeit), künstlicher Befruchtung, digitalen Add-ons oder anderen Hightech-Produkten, wir verschieben immer mehr unsere körperlichen und geistigen Grenzen nach oben. Kollektiv betreiben wir globales Klima-Engineering, allerdings nicht zu unserem Vorteil. Bereits jeder Vierte stirbt heute an den Folgen des Klimawandels. Jeder will sein Leben hoch-individuell gestalten und seine Bedürfnisse voll ausleben, koste es was es wolle.

4. Fragmentierung: Allgegenwärtiges Symbol der Fragmentierung ist das Handy. Wer sich heute an öffentliche Orte begibt, wird feststellen, dass nur noch Wenige miteinander reden, wenn sie gemeinsam am Tisch sitzen. Jeder, selbst die Kleinsten, spielen mit ihren iPads oder Smartphones. An die Stelle von sozialen Gruppen und Beziehungen in der analogen Welt, treten virtuelle Beziehungen in den sozialen Netzwerken der digitalen Welt. Wer davon überfordert ist, wendet sich Gruppen mit Retro-Ideologien zu, die über eng definierte Glaubenssysteme und Feindbilder, scheinbare Orientierung liefern.

5.  Re-Lokalisierung:  Die Biokiste mit saisonalem Gemüse aus der Region steht schon seit längerem symbolisch für diese Rückbesinnung. Phänomene wie „Urban Gardening“ kann man ebenfalls diesem Trend zurechnen. Die Rückwendung zum Lokalen ist einerseits Gegenbewegung zur Globalisierung und der zunehmenden, gesellschaftlichen Fragmentierung, andererseits macht sie auch ökologisch sehr viel Sinn. In einer Gesellschaft extremer Individualisierung wächst das Bedürfnis der lokalen Verankerung und Zugehörigkeit.

Die ersten vier dieser Megatrends führen uns in eine zunehmend anonymer werdende Gesellschaft der Verwertbarkeit. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas warnte bereits vor mehr als 25 Jahren, dass die „Systemwelten“, bestehend aus Werbung, Wirtschaft und Technologie, unsere „Lebenswelten“ immer weiter besetzen. Aus meiner Sicht ist dies bereits passiert, und die o.a. Megatrends werden diese Entwicklung noch schneller vorantreiben. Immer tiefer wird sich die Logik des Funktionierens und Verwertens in unsere menschlichen Lebensräume und Beziehungen einnisten. Schon heute sind Smartphones für viele zum Teil ihres Körpers avanciert, ohne die sie scheinbar nicht mehr existieren können. Statt uns selbst zu erkennen, wie es das Delphi-Orakel einst empfahl, erkennen uns heute die Algorithmen. Statt tiefer in das eigene Wesen einzutauchen, unterwerfen wir uns der Systemlogik der Verwertbarkeit. Auch wenn die Zukunftsforscher es freundlicherweise „Gestaltung“ nennen, halte ich „Manipulation“ für den passenderen Begriff. Werbung ist heute unglaublich verführerisch und manipulativ geworden. Sie suggeriert uns freie Wahl, die in Wirklichkeit eine Illusion ist, denn die Algorithmen kennen uns bereits besser, als wir uns selbst. Sie sind lernfähig geworden und passen sich immer wieder neu unseren Bedürfnissen an. Jeder kann das an seinem PC verifizieren. Wenn Du einmal bei Google nach einem Staubsauger gesucht hast, kriegst Du Haushaltgerätewerbung ohne Ende, ob Du willst oder nicht.

Fodé Diawara, afrikanischer Anthropologe, beschrieb einst unsere westliche Kultur sehr kritisch, wie folgt: „Überall da, wo der westliche Geist herrscht, ist ein Maximum an Bedürfnissen, ein Maximum an Arbeit, ein Maximum an Ertrag, ein Maximum an Ehrgeiz und ein Maximum an Nutzdenken zu beobachten. Überall dort, wo sich dieser westliche Geist durchgesetzt hat, ist auch ein Maximum an Ungleichheit, ein Maximum an Ungerechtigkeit, ein Maximum an Gewalt, ein Maximum an Zerstörung der Natur, ein Maximum an Sinnlosigkeit, ein Maximum an Heuchelei und Gleichgültigkeit, ein Minimum an zwischenmenschlichen Beziehungen, ein Minimum an Altruismus, ein Maximum an Sinnlosigkeit, ein Maximum an Oberflächlichkeiten und ein Minimum all dessen, was wahrscheinlich den Sinn unseren Lebens hier auf der Erde ausmacht.“
Die Logik dieser westlichen „Systemwelt“, die hauptsächlich auf Besitz und Funktionieren aufgebaut ist, hat gemäss Diawara für die Beziehung zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen fatale Konsequenzen, die gar nicht so einfach zu durchschauen sind: „Die Zunahme des Besitzstandes führt zu einer Verstärkung der sozialen Isolation und Blockierung des zwischenmenschlichen Austausches. Menschen arbeiten „zu viel“, um sich „zu viele“ Güter  anzueignen. Vor allem halten sie die Hektik um sie herum, als eine von ihnen selbst ausgelöste Bewegung. In Wirklichkeit aber handelt es sich dabei um einen Lebensrahmen, der von aussen um sie herumbewegt wird. Je mehr Aufzüge es gibt, um so weniger benutzt man die Treppe. Je mehr Autos es gibt, umso weniger geht man zu Fuß. Je mehr PCs, TV, Smartphones und iPads es gibt, umso weniger denkt man selber.“

Wie kann uns das Delphi-Bewusstsein helfen, diese Funktions- und Verwertungslogik, bzw. das fragmentierende Denken, das es hervorbringt, zu transzendieren, bzw. eine Kultur zu schaffen, die die besten Eigenschaften hervorbringt, über die wir als Menschen verfügen? Wir sollten uns zunächst bewusstmachen, dass jede Kultur uns eine Art von „Brainwashing“ verpasst. Wirkliche Freiheit besteht darin, in den alten Denkstrukturen „surfen“ zu können, ihnen aber nicht ausgeliefert zu sein. Wir können die alten Denkweisen nur aufbrechen, wenn es uns gelingt, sie von außen zu betrachten und durch eine andere Art des Denkens zu ersetzen. Diese andere Art des Denkens geht über das Nachdenken hinaus und verbindet sich mit Ebenen des Bewusstseins, die uns in die tiefere Natur des Selbst bringen. Nur „wenn wir der Wandel sind, den wir in der Welt sehen wollen,“ wie es Gandhi einst formulierte, schaffen wir die Voraussetzung für eine radikale Veränderung der Gesellschaft. „Nichts im Übermaß“, die zweite Empfehlung des Delphi Orakels, bewahrt davor, uns in neuen Ideologien zu verlieren oder fanatisch zu werden. Auch ich verbringe viele Stunden meines Lebens vor dem PC, schaue immer mal wieder ohne Notwendigkeit auf mein Smartphone oder lass mich von Amazon oder Google in meinem Kaufverhalten manipulieren, aber immer häufiger ziehe ich den Stecker, bin offline, meditiere, versinke im Nichts, geh einfach spazieren, genieße die Natur, schaue meiner Frau tief in die Augen, vergesse die Welt da draußen oder tue einfach gar nichts.

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