Die transpersonale Psychologie veränderter Bewusstseinszustände findet ihre Wurzeln u.a. in den schamanischen Traditionen verschiedenster Kulturen. Als Schamane wurde in vielen Völkern jemand beschrieben, der Kontakt zu den transzendenten Ebenen des Seins herstellen konnte. Dort fand er Weisheit, Anweisungen für Heilung oder Vorahnungen, die für die Zukunft eines Menschen oder eines Stammes wichtig waren. Der Westen hatte bis tief ins 20. Jahrhundert diese außergewöhnlichen Menschen aus anderen Kulturen als Ketzer, Scharlatane oder Betrüger abgestempelt und verfolgt. In unserer Kultur waren die meisten Schamanen, meist hellsichtige Heilerinnen und Frauen, auf dem Scheiterhaufen gelandet. Erst mit dem rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade beginnt die westliche Wissenschaft ihre einseitige, ethnozentrische Sichtweise zu verlassen. Eliade ging davon aus, dass man eine Kultur nur von „Innen heraus“ verstehen kann und bahnte damit den Weg für eine moderne Anthropologie, die sich von da ab tiefer auf die schamanische Philosophie und ihre ekstatischen Praktiken einließ.
Ein regelrechter Boom in Bezug auf Schamanismus wurde in den sechziger und siebziger Jahren mit den Büchern des US-Anthropologen Carlos Castaneda ausgelöst. Sein Lehrer, ein mexikanischer Schamane, mit Namen Don Juan Matus, führte ihn über 30 Jahre in die magischen Praktiken der Toltek Indianer ein. Dabei spielten vor allem zu Beginn, wie übrigens in vielen schamanischen Traditionen, psychoaktive Pflanzen eine wichtige Rolle. Ich erinnere mich gut an die Zeit der späten sechziger Jahre, als ich nicht mehr warten konnte, bis das nächste Buch von Castaneda herauskam. Aber Mexiko war damals weit weg und psychoaktive Substanzen verfügbar. Sie veränderten mein Bewusstsein, machten es flüssiger und gaben mir erste Einblicke in veränderte Bewusstseinsebenen.
Aus heutiger Sicht erfolgten diese Erfahrungen chaotisch, ohne Begleitung, dem Zeitgeist entsprechend leichtsinnig. Aber im Nachhinein betrachtet, waren es für mich wichtige Erfahrungen. Sie zeigten mir vor allem, dass das, was ich glaubte zu sein, nur ein Sammelsurium von gesellschaftlichen Klischees, Mustern und Programmen war. Sie erzeugten eine Sehnsucht danach, was wir in der transpersonalen Psychologie das wahre oder ursprüngliche Selbst nennen. Später wurde mir klar, dass diese kraftvollen, bewusstseins-erweiternden Substanzen zwar Türöffner sein konnten, aber keine nachhaltige Lösung. Es ist übrigens bedauerlich, dass psychoaktive, bewusstseins-erweiternde Substanzen heute immer noch kriminalisiert werden, während bewusstseins-dämpfende Substanzen, wie Alkohol oder Psychopharmaka, in großem Stil kommerziell vermarktet werden.
Castanedas Konzept der „zweiten Aufmerksamkeit“ war etwas, was damals mich und viele andere Leser in den Bann zog. Was war diese zweite Aufmerksamkeit? Wie konnte man sie herstellen und nutzen? Don Juan Matus unterrichtete Castaneda darin, die zweite Aufmerksamkeit systematisch zu entwickeln. Er unterschied zwischen zwei parallelen Welten. Die erste Welt nannte er Tonal, das entspricht der materiellen Welt, die zweite nannte er „Nagual“, die immaterielle Welt. Mit der „zweiten Aufmerksamkeit“ wurde es Castaneda nach einiger Zeit beispielsweise möglich, den Energiekörper einer Person wahrzunehmen. Was die toltekischen Schamanen einen „energetischen Kokon“ nannten, findet sich mit anderen Worten sowohl in indischen, wie auch in chinesischen, meditativen Praktiken wieder. Die Art und Weise, wie wir die Realität über unsere fünf Sinne wahrnehmen, dient zwar unserem Überleben, reicht aber nicht aus, um unser Leben wirklich zu meistern. Die zweite Aufmerksamkeit, im Buddhismus oft Achtsamkeit genannt, ist ein Schlüssel dafür, unser Energiesystem zu managen. Wenn Du Dein Leben selber in die Hände nehmen willst, so lehrt Don Juan, musst Du in der Lage sein, deine Energie zu meistern. Wenn Du deine Energie meistern willst, musst Du in der Lage sein, Deinen Verstand in die Ruhe zu bringen. Deshalb unterrichtet Don Juan seinen Castaneda vor allem darin, den „inneren Dialog anzuhalten, d.h. das Denken „zum Stillstand zu bringen“.
Für die Entwicklung der zweiten Aufmerksamkeit war das „Anhalten des ständig plappernden Verstandes“ von immenser Bedeutung. Dafür benutzen die toltekischen Schamanen verschiedene Techniken, wie:
- Defokussiertes, kontinuierliches Betrachten oder Anstarren eines Objekts. Dadurch wird die erste Aufmerksamkeit erschöpft und die zweite Aufmerksamkeit stellte sich ein. Diese Technik kann man jederzeit verwenden.
- Nichtstun, Pausen, physischer Stillstand, völlige Passivität, Meditation. Die mexikanischen Schamanen benutzen dafür insbesondere Orte, die sich energetisch stark anfühlten, sogenannte Kraftplätze. Suchen Sie sich Ihren Ort der Stille, der Ruhe, abseits vom Lärm. Interessanter Weise sind heute vor allem Kirchen gute Orte für die Stille. In der Regel sind sie völlig leer und in Städten ein wahrer Zufluchtsort.
- Traumarbeit, mit dem Ziel, während des Traumes luzid zu werden, ohne aufzuwachen. Don Juan lehrte ihn u.a. eine Technik, um im Traum „luzide“ zu werden, die darin besteht, sich vor dem Einschlafen darauf zu programmieren im Traum die eigenen Hände zu betrachten. Stephen LaBerge, von der Stanford University, konnte erst in den 90er Jahren wissenschaftlich nachweisen, dass Klarträume überhaupt existieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hielt die Psychologie „luzides Träumen“ für esoterische Hirngespinste.
- Den Tod immer mal wieder im Bewusstsein zu haben, ihn als Ratgeber zu betrachten. Er hilft uns an Nichts festzuhalten und Wesentliches von Unwesentlichem schnell unterscheiden zu können.