Die drei Dimensionen der „verlorenen Zeit“ und der Weg ins „Jetzt“
Die Zeit als Mittel zum Zweck
Für das mentale Betriebssystem (linke Hemisphäre) ist der Augenblick nur sinnvoll als Mittel zum Zweck. Zukunft wird wichtiger eingestuft, wie der Augenblick. Das Jetzt ist hauptsächlich Mittel zum Zweck. Es dient dazu, dass etwas in Zukunft besser ist. Dieser „auf „den reinen Nutzen reduzierte“ Umgang mit der – an sich magischen Dimension des Augenblicks, ist einer der Markenzeichen der westlichen Kulturen. Er ist ihr so eigen und so tief verwurzelt, dass er nur äußerst selten ins Bewusstsein kommt. Von der Zukunft erhofft man sich, dass sie besser wird als die Gegenwart, immer besser, deshalb treiben wir uns derartig in sie hinein. Natürlich kommt sie nie, die Zukunft, außer als nächster Augenblick, der ja auch wieder nur Mittel zum Zweck ist. Mit jedem Foto, das wir machen, treten wir aus dem gegenwärtigen Erleben hinaus, für die Zukunft, damit wir uns erinnern. Stellen wir uns vor, wir sind im Gespräch mit jemandem, zücken plötzlich die Camera und machen ein Foto, damit wir uns später (Zukunft) erinnern, mit wem wir damals (Vergangenheit) (k)ein Gespräch geführt haben. Die Magie des Augenblicks wird gebrochen.
Die Zeit als Problem
Die meisten Menschen in der herrschenden Kultur sind niemals wirklich präsent, da sie immer versuchen schon irgendwo anders zu sein. Wenn diese Haltung stärker wird – das ist eher die Norm, als die Ausnahme – wird der Augenblick als Hindernis betrachtet, welches überwunden werden muss. Aus dieser Haltung heraus entsteht Frustration, Stress oder Ungeduld. Sie führt dazu, dass der Augenblick als Problem betrachtet wird. So lebt man meistens in einer Welt von Problemen (Corona verstärkt diese Tendenz noch), die schnellst-möglich gelöst werden müssen, bevor wir Erfüllung erleben können, bzw. das Leben wirklich leben können. Das Kernproblem aber ist, dass sobald ein Problem gelöst ist, das Nächste schon wartet. Solange der Augenblick als Hindernis wahrgenommen wird, gibt es auch kein Ende der Probleme. Die Zeit zieht an einem vorbei. „Leben ist das, was passiert, während man mit anderen Problemen beschäftigt ist.“ (John Lennon)
Die „Zeit“ sagt: „Du kannst mich so haben, wie du willst. Ich werde dich so behandeln, wie du mich behandelst. Wenn ich ein Problem für dich bin, dann werde ich eins für dich sein. Wenn Du mich als Hindernis betrachtest, werde ich ein Hindernis für dich sein.“
Die Zeit als Feind
Im schlimmsten Fall wird die Zeit – ich betrachte sie hier synonym mit dem „Jetzt“ – behandelt, als wäre sie ein Feind. Wenn du das hasst, was du tust, über dein Umfeld jammerst, dein innerer Dialog vorwiegend aus Anklagen und Vorwürfen besteht, verwandelst du den Augenblick, dein Leben in einen Feind und das Leben antwortet Dir: „Wenn Du Krieg willst, kannst du Krieg erhalten.“ Das heisst nicht, dass man Missstände nicht wahrnimmt oder benennt, aber es ist wichtiger sich auf die Lösungen zu fokussieren, als auf die Probleme. „Es ist besser ein Streichholz anzuzünden, als über die Dunkelheit zu lamentieren (persisches Sprichwort).“ Die besten Lösungen kommen ohnehin aus der Tiefendimension des „Jetzt“. Hier sind wir in der „zeitlosen Dimension“ des Augenblicks. Hier entstehen spontan die kreativsten Lösungen.
Tibetische Atemtechnik
Wer sich ab und zu eine „Verschnaufpause“ von der verrückten Welt da draußen gönnen möchte, dem sei eine Atemtechnik empfohlen, die aus der tibetischen Tradition des Dzogchen (= grosse Vollkommenheit) kommt:
„Bring deine Aufmerksamkeit zum Herz. Atme tief ins Herzzentrum ein. Hole nochmals ganz kurz Luft. Halte den Atem an, solange du kannst, während du auf dein Herz konzentriert bist. Wenn du die Luft fast nicht mehr anhalten kannst, atme langsam aus. Mit dem langsamen Ausatmen durch den ganzen Körper, stell dir vor, dass alle Belastungen durch deine Fußsohlen in die Erde abfließen. Wiederhole dies fünf mal.“
Die Beziehung zum „Jetzt“ überprüfen
Es ist hilfreich, sich während des Tages immer mal wieder die Frage zu stellen: „Was ist meine Beziehung zum jetzigen Augenblick?“ Betrachte ich den Augenblick lediglich als Mittel zum Zweck? Betrachte ich das „Jetzt“ als Hindernis oder als Feind? Da der jetzige Augenblick die einzige Zeit ist, die wirklich existiert, da das Leben untrennbar vom Jetzt ist, ist die eigentliche Frage: „Wie ist meine Beziehung zum Leben?“ Diese Frage ist eine einfache Methode, um die Illusion der fortlaufenden Zeit zu entlarven und sich in den Zustand des Jetzt zu bringen. In dem Moment, wo wir wahrnehmen können, dass die Beziehung zum jetzigen Augenblick dysfunktional ist, bringt uns die Frage bereits in den Augenblick hinein. Das Innehalten, die Achtsamkeit für die eigene Beziehung zum „Jetzt“ erzeugt bereits ein Gefühl der Gegenwärtigkeit. Sobald man sich dessen gewahr wird, kann sich das vorher noch unbewusste Muster des Getriebenseins auflösen. Jetzt kann man gut fünf tiefe Atemzüge nehmen und die Luft anhalten. Manche brechen in Gelächter aus, wenn sie wieder im „Jetzt“ ankommen oder entscheiden sich einfach nur Freundschaft mit der zeitlosen Dimension des „Jetzt“ zu schliessen.
Ralph Wilms